Beiträge zur Erforschung des Lebensstandards in Deutschland unter den Bedingungen von Diktatur und Demokratie: Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik

Beiträge zur Erforschung des Lebensstandards in Deutschland unter den Bedingungen von Diktatur und Demokratie: Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik

Organisatoren
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.04.2004 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Irmgard Zündorf; Jennifer Schevardo

Seit drei Jahren wurde am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) unter der Leitung von André Steiner an einem Forschungsprojekt zum Thema "Preisbildung und Lebensstandard in Deutschland unter den Bedingungen von Diktatur und Demokratie: Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik in vergleichender Perspektive" - gefördert von der Volkswagen Stiftung - gearbeitet. Zum Abschluß dieses Projektes sollten die Ergebnisse auf einem Workshop vorgestellt und diskutiert werden. Ergänzend dazu wurden auf diesem Workshop weitere neuere Forschungserträge zur Entwicklung des Lebensstandards im Nationalsozialismus, in der DDR und der Bundesrepublik präsentiert.

Nach der Begrüßung der Teilnehmer durch den Direktor des ZZF, Konrad H. Jarausch führte André Steiner (Potsdam) in seinem Eröffnungsreferat aus, daß es staatliche Beeinflussung von Konsum in der deutschen Geschichte immer gegeben habe. Besondere Bedeutung erlangte sie in den Etablierungsphasen von Systemen, also im Nationalsozialismus der Vorkriegszeit, sowie in der DDR und der BRD der fünfziger Jahre. Dem Lebensstandard der Bevölkerung wurde hier stets Legitimation stiftende Funktion zugedacht, gleichzeitig blieb dieser, besonders in den beiden deutschen Diktaturen, anderen wirtschaftspolitischen Zielen bei- oder auch untergeordnet. Seine wichtigste Determinante, neben den Einkommen und dem Angebot, sind die Verbraucherpreise. Deren gezielte, politische Gestaltung hat, wie Steiner in seinen Ausführungen zu den "langen Linien" der Preispolitik zeigte, Tradition.

Die Sektion zur Bundesrepublik eröffnete Irmgard Zündorf (Potsdam) mit einem Beitrag zu den Zielen und Interessenkonflikten in der Verbraucherpreispolitik und ihrem Einfluss auf den Lebensstandard in den fünfziger Jahren. Im Rahmen der auf marktwirtschaftlichen Prinzipien beruhenden Wirtschaftspolitik stellten die Verbraucherpreise teilweise eine Ausnahme dar. Denn für insgesamt etwa 30% des privaten Verbrauchs unterlagen sie staatlicher Administration. Obgleich sich der Lebensstandard verbesserte, wurde an der politischen Regulierung der Preise festgehalten. Dies lag zum einen an der besonderen Rolle der Preisentwicklung in der Wahrnehmung der Bevölkerung, zum anderen an den spezifischen, divergierenden Interessen der wirtschaftspolitischen Akteure. In den Jahren 1948 bis 1952 schwankten die Verbraucherpreise stark, was in der Öffentlichkeit Unzufriedenheit und grundlegende Kritik an dem gesamten Preissystem hervorrief. Zur Beruhigung der Bevölkerung ergriff die Regierung einige, jedoch eher symbolische Maßnahmen wie die Subventionierung einzelner, aus legitimatorischer Sicht wichtiger Preise. Die Forderung nach staatlichen Eingriffen in die Preisbildung bestand auch fort, nachdem, etwa ab 1952, das marktwirtschaftliche System bereits konsolidiert war. Doch wurde sie von der positiven Entwicklung des Lebensstandards ab Mitte der 50er Jahre überholt. Die Bevölkerung war zunehmend bereit, für Waren besserer Qualität auch höhere Preise zu zahlen. Die Rolle spezifischer Akteursinteressen legte Zündorf für die einzelnen Bereiche preispolitischer Administration: Wohnen, Verkehr und Ernährung gesondert dar. In der anschließenden Diskussion wurde vor allem die unterschiedliche Wirkung der Verbraucherpreisregulierung in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen und damit der Anteil noch einmal hervorgehoben, den die Preispolitik an der Konsolidierung des Systems hatte.

Lutz Budraß (Bochum) ergänzte diese Sektion mit seinem Beitrag: "‚Alle sollen besser Leben.' Leo Brandt, die Konsumgesellschaft und der Fortschrittsdiskurs in der SPD in den fünfziger Jahren." Ausgehend von der Frage, warum die SPD sich in den fünfziger Jahren kaum zur Konsumpolitik geäußert habe, analysierte er zunächst ihr Selbstverständnis als traditionelle, eher konsumfeindlich eingestellte Arbeiterpartei. Gleichzeitig jedoch erlebte die SPK einen starken Zulauf linker Gruppen, die programmatisch integriert werden mussten. Eine an den Gegebenheiten der entstehenden Konsumgesellschaft orientierte Programmatik erlebte schließlich - so Budraß - auf dem Münchener Parteitag von 1956 ihren Durchbruch, auf dem der bis dahin eher unbekannte Leo Brand sein Konzept der "Zweiten industriellen Revolution" präsentierte. Es setzte v. a. auf einen durch die technische Entwicklung induzierten Strukturwandel, in dem die Atomkraft als Innovations- und Produktivitätsimpuls eine zentrale Rolle spielen sollte. Dies Konzept bot der SPD schließlich den Ausweg, ihre traditionelle Konsumverweigerung aufzugeben und mit neuen Anliegen zu verbinden. Die Diskussion drehte sich vor allem um die Frage, inwiefern hier von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden könne oder ob es sich um eine Neuauflage der traditionellen, sozialistischen Fortschrittsidee handle.

Den Themenblock zu dem ostdeutschen Teilstaat eröffnete Jennifer Schevardo (Potsdam) mit einem Vortrag über "Leitlinien und Effekte der Verbraucherpreispolitik in der DDR der fünfziger Jahre". Zunächst dominierten in der Preispolitik dort finanzpolitische Ziele. Es galt, den nach der Währungsreform immer noch zu hohen Geldumlauf zu reduzieren. Zu diesem Zweck wurde 1948 die staatliche Handelsorganisation (HO) gegründet, in deren Läden weitaus höhere Preise als für die bis dahin nur im Rationierungssystem erhältlichen Güter galten. Diese waren auch gegen den Schwarzmarkt gerichtet und sollten zur Akzeptanz des Leistungslohns beitragen. Ab 1953 wurde die Preispolitik systematischer gehandhabt und langfristiger geplant, wobei das sozialpolitische Ziel ein stabiles, einheitliches Verbraucherpreisniveau war. Daraus ergaben sich jedoch negative Effekte auf die Entwicklung des Angebotes. 1958 schließlich wurden die Reste der Rationierung abgeschafft. Die Verbraucherpreise sollten nun systematisch gesenkt werden und somit einen Beitrag zur Verbesserung des Lebensstandards leisten. Jedoch wurden bald erhebliche Probleme in der Preispolitik offenbar, die schließlich dazu führten, dass das Prinzip einheitlicher, niedriger Verbraucherpreise aufgegeben wurde. Waren besserer Qualität oder Ausführung sollten nun auch mehr kosten. Wegen der schlechten Versorgungslage und der wachsenden Fluchtbewegung schreckte die Regierung jedoch vor Maßnahmen zurück, die den Lebensstandard verschlechtert hätten. Erst mit dem Mauerbau verschaffte sie sich den Spielraum, geplante Preiserhöhungen umzusetzen. Abschließend präsentierte Schevardo neue Berechnungen über die Wirkung der Verbraucherpreispolitik. Damit konnte sie belegen, dass die Preise - zusammengefasst - stärker stiegen, als im amtlichen Index ausgewiesen.

Dierk Hoffmann (Berlin) machte anschließend einige Ausführungen zur Rentenpolitik der SED und ihren Auswirkungen auf den Lebensstandard der ostdeutschen Rentner in den fünfziger Jahren. Das bereits von Schevardo aufgezeigte doppelte Preisniveau traf vor allem die Rentner, die sich aufgrund ihrer niedrigen Einkommen kaum in den HO-Läden versorgen konnten. Zwar wurden ihre Bezüge 1950/51, 1953, 1956 und 1959 erhöht, doch fielen die Leistungsverbesserungen so bescheiden aus, dass die Renten oftmals am Rande des Existenzminimums lagen. Die Einführung der dynamischen Rente 1957 in der Bundesrepublik brachte die SED schließlich in Zugzwang. Aber die Ansätze für eine "sozialistische" Reform des Beitragssystems scheiterten am Primat der Produktion gegenüber der Sozialpolitik und damit der Bevorzugung der Erwerbstätigen. Über so genannte Zusatzrenten und Ehrenpensionen wurden nur Mitglieder bestimmter Berufsgruppen privilegiert. Zusammenfassend betonte Hoffmann, dass die Rentenpolitik als Teil der Sozialpolitik zunächst vernachlässigt wurde und sich erst in den 60er Jahren zu einem eigenen Politikfeld der SED entwickelte. Die Diskussion verdeutlichte schließlich, dass in der DDR in den fünfziger Jahren keine "sozialistische Alternative" zur westdeutschen Sozialpolitik entwickelt wurde, sondern diese stark vernachlässigt wurde.

Die dritte und letzte Sektion eröffnete André Steiner (Potsdam) mit einem Vortrag zu "Preispolitik und Lebensstandard im Nationalsozialismus der Vorkriegszeit". Aufrüstung und Autarkiepolitik des NS-Regimes ließen die Erzeugerpreise ansteigen, was sich - trotz politischer Gegenmaßnahmen - auch auf die Verbraucherpreise auswirkte, die sich bis 1936, v.a. bei Bekleidung, stark erhöhten. Danach wurde schließlich ein Reichskommissar für die Preisbildung eingesetzt, dessen erweiterte Machtbefugnisse ihn als "wirtschaftlichen Reichskanzler" erscheinen ließen. Er verfügte einen allgemeinen Preisstopp, der zwar offene Inflation verhinderte, doch stiegen - so Steiner - die Preise verschleiert auf Grund von Verknappung und Qualitätsverschlechterungen der Waren weiter. Darum zweifelten bereits Zeitgenossen am amtlichen Index. Steiner stellte seine eigene Schätzung eines Index für die Ernährungspreise vor, nach der die amtlichen Angaben für diese Warengruppe überraschenderweise durchaus als plausibel gelten können. Dagegen dürfte der amtliche Textil- bzw. Bekleidungsindex deutlich zu niedrige Preise ausweisen.

In der Diskussion verwiesen sowohl Christoph Buchheim (Mannheim) als auch Andrea Wagner (München/Freiburg) auf gegenteilige Erkenntnisse der Lebensstandardforschung, nach denen sich die Versorgungslage der Bevölkerung in der Vorkriegszeit verschlechtert habe, was preislich zu berücksichtigen sei. Steiner hingegen betonte, dass die "gefühlte" Inflation offenbar in Folge psychologischer Effekte die realwirtschaftliche überstieg, was er eine Art "Teuro-Effekt" der Vorkriegszeit nannte.

Andrea Wagner präsentierte in ihrem Beitrag "Ein Human Development Index (HDI) für Deutschland und die Entwicklung des Lebensstandards im NS-Wirtschaftsaufschwung" zunächst dieses, von den Vereinten Nationen 1990 eingeführte Konzept zur Messung und internationalem Vergleich des Lebensstandard. Neben der rein wirtschaftlichen Kennziffer des Volkseinkommens pro Kopf gehen in diese synthetische Größe Aspekte der Bildung und der Gesundheit ein. Um das Konzept für eine Betrachtung des Lebensstandards im Deutschland der Vorkriegszeit nutzbar zu machen, differenzierte Wagner die Faktoren Gesundheit, Bildung und Wirtschaft stärker aus. Die Berechnungen mit dem traditionellen HDI einerseits und mit dem für Deutschland spezifizierten Konzept andererseits führten zu unterschiedlichen Ergebnissen. Während nach traditioneller HDI-Methode das Wohlfahrtsniveau von 1925 bis 1933 stieg und von 1933 bis 1939 eher rückläufig war, ergab der modifizierte Index eine Entwicklung mit umgekehrten Vorzeichen. Dies ist v. a. dem hier integrierten Faktor der Arbeitslosigkeit geschuldet. Da diese in den Jahren 1933-39 weitgehend abgebaut werden konnte, weist der entsprechende Index eine steigende Wohlfahrt aus, obgleich die anderen Indikatoren Bildung und Gesundheit in dieser Zeit rückläufig waren.

Abschließend lieferte Christoph Boyer (Berlin/Frankfurt a.M.) ein Resümee, in dem er Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs in Fragen des Lebensstandards und des Konsums der drei thematisierten Systeme aufzeigte. Als gemeinsame Kriterien nannte er die primär monetäre Vermittlung des Konsums, den politischen Problemlösungs-Anspruch, ein großer Fundus gemeinsamer Erfahrungen, den impliziten Anspruch einer "moral economy", die Einrahmung in spezifische Ordnungsvorstellungen und das Spannungsfeld zwischen wirtschafts- und sozialpolitischen Zielen. Unterschiede ergaben sich v. a. durch die verschiedenen, systemisch gebundenen Entscheidungsstrukturen und dadurch mittelfristig vertieften Pfadabhängigkeiten. Alles in allem war der Workshop von einer regen und produktiven Diskussion über Ergebnisse und Defizite der vorgestellten Projekte geprägt und vermittelte so auch Anregungen für weitere Untersuchungen.


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